2021-12-02 23:24

FC St. Pauli 5 - HG Hamburg-Barmbek 7 30:19 (14:9)

28.11.2021, 19:15 Uhr, Thedestraße

Filmreif

FC St. Pauli 5 - HG Hamburg-Barmbek 7 30:19 (14:9)
28.11.2021, 19:15 Uhr, Thedestraße


knickwurf.kultur: Herzlich Willkommen zu dieser neuen Ausgabe von knickwurf.kultur – Ihr Distinktionsprogramm auf St. Pauli. Unser heutiger Studiogast ist der Theater- und Kinokritiker Paul Heilig. Guten Abend, Herr Heilig.
Paul Heilig: Guten Abend.
kk: Herr Heilig – Sie waren für uns im Kino. Was gab es denn schönes?
PH: Ich war im Kino – in einem sehr schönen kleinen Off-Kino auf St. Pauli. Und das war schon ein spezielles Erlebnis. Das kann ich jedem nur empfehlen.
kk: Was war denn so besonders an dem Abend?
PH: Nun – zum ersten war es eine sehr stimmige Atmosphäre. Die Aufführung fand unter 2G-Bedingungen statt, es herrschte Maskenpflicht und es roch muffig. Man fühlte sich ein wenig beklommen und das schuf – ich trau’s mich kaum zu sagen – die perfekte Stimmung für diesen Low-Budget-Film einer jungen Hamburger – ja, es ist eigentlich eine Theatercompagnie, die diesen Film gedreht hat. Der Film heißt „Das Spiel beginnt erst nach zehn Minuten“, und dahinter verbirgt sich schon die erste Doppeldeutigkeit – fast Dreideutigkeit – dieses ambitioniert zeitkritischen Werks.
kk: Inwiefern „Doppeldeutigkeit“?
PH: In dem Film geht es – vordergründig – darum, dass eine Mannschaft ein Handballspiel verliert. Es gibt im Handball diese eiserne Regel, dass alles, was in den ersten zehn Minuten eines Spiels passiert, keinen Einfluß auf den Spielausgang hat. Das ist ein Thema des Films. Da gibt es aber noch ein kleines Präludium, ein Vorspiel gewissermaßen, denn das Spiel beginnt tatsächlich erst mit zehn Minuten Verzögerung, weil die Offiziellen Schwierigkeiten mit der Technik haben. Die Spieler stehen solange tatenlos auf der Platte, wenn ich das mal so salopp sagen darf.
kk: Das ist in der Tat ein merkwürdiger Anfang für einen Sportfilm. Welche Aussage steckt dahinter? Geht es um klassische Technologiekritik?
PH: Nun, eher das Gegenteil ist der Fall. Sie müssen sich vorstellen: Da hantieren ein paar Offizielle, also Mannschaftsbetreuer und Zeitnehmer, mit einem Tablet rum, um irgendwelches Zeug einzutragen, und es funktioniert nicht. Sie sind schlecht vorbereitet, die Technik spinnt – irgendwas halt, das sie nicht in den Griff kriegen. Irgendwann fängt einer an, die eigentlich schon elektronisch erfaßten Daten auf ein Blatt Papier zu übertragen, während die anderen hektisch weiterklicken. Das ist eine fast schon überdeutliche Allegorie auf die Unfähigkeit der deutschen Regierung am Anfang der Coronakrise, eine – technisch anderswo längst erprobte – digitale Kontaktverfolgung aufzubauen. Ich hatte nach der Aufführung Gelegenheit, mit der Regisseurin Senta Paulsen zu sprechen. Sie hat diese Interpretation bestätigt und geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie den Widerspruch beklagt, dass unsere Verwaltungskaste die Digitalisierung nicht versteht, die sie doch selbst politisch voranzutreiben verspricht.
kk: Das ist ja schon ein starkes Statement, das den deutschen Filmpreis in weite Ferne rücken läßt. Geht der Film denn so politisch weiter?
PH: Das kann ich ganz klar bejahen. Er bleibt in einer fast aufdringlichen Weise politisch und er wird noch deutlich aktueller. Die Niederlage der Mannschaft ist ja eine ganz offensichtliche Metapher für das unausweichliche Versagen unserer Gesellschaft im Kampf gegen Corona. Und über weite Teile des Films ist klar, dass die Mannschaft nur verlieren kann, denn der Gegner ist viel stärker. Interessant ist jetzt, wie sich diese Niederlage entwickelt.
kk: Nämlich?
PH: In den ersten zehn Minuten – handgestoppt ist es eine gute Viertelstunde – scheint das Spiel ausgeglichen und Barmbek – die späteren Verlierer – hat sogar leichte Vorteile. Die Spieler sind in Hochstimmung und feuern sich gegenseitig an. Sie halten sich für die Größten.
kk: Aber dann kippt das Spiel nach diesen gut zehn Minuten.
PH: Dann kippt es, wie schon der Titel sagt. Und es kippt unmerklich. Scheinbar beiläufig fallen die Tore für St. Pauli – Senta Paulsen ist St.-Pauli-Fan, wie sie vielleicht merken – und plötzlich ist da eine Lücke von drei Toren.
kk: Und Barmbek muß reagieren. Um im Thema „Corona“ zu bleiben, könnte man sagen: Der Sommer endet überraschend.
PH: Der Sommer ist rum. Barmbek muß reagieren, und die Art der Reaktion ist bezeichnend. Sie ändern ihre Taktik nicht, sondern intensivieren einfach ihre offensichtlich erfolglosen Bemühungen. Dadurch – und das ist ein etwas fragwürdiger erzählerischer Kniff – rückt der Schiedsrichter in den Mittelpunkt.
kk: Der Schiedsrichter…
PH: Wir kennen das alle: Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn über den Schiedsrichter gesprochen wird. Und auch in Das Spiel beginnt erst nach zehn Minuten ist das so. Der Film wird dadurch ziemlich anstrengend – auch, weil er sehr plakativ eine etwas esoterische Message transportieren soll.
kk: Die da wäre?
PH: Der Schiedsrichter wird hier ja in einer geradezu grotesken Weise in den Mittelpunkt gestellt. Alleine für Barmbek vergibt er 9 Zeitstrafen! Für Frau Paulsen steht der Schiedsrichter stellvertretend für das Prinzip „überwachen und strafen“, das sie sehr tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sieht und das in ihren Augen einen großen Teil zur Dysfunktionalität dieser Gesellschaft in der Coronakrise beiträgt.
kk: Könnten Sie das unseren Hörern – und ich gebe zu: auch mir – etwas näher erläutern?
PH: (lacht leise) Ich mußte es mir auch erst erklären lassen. Sie spielt darauf an, dass Corona-Maßnahmen häufig nicht aus ihrer epidemiologischen Notwendigkeit heraus erklärt werden, sondern Politiker sprechen davon, dass man gewisse Gruppen für ihr Wohlverhalten belohnen müsse oder jedenfalls nicht „bestrafen“ dürfe und dass andere Gruppen, seien es feierwütige Jugendliche oder Impfgegner, die „Folgen ihres Handelns spüren“ müßten. Da würden dann Testzentren bundesweit ausgerechnet zu Herbstbeginn geschlossen, um Leute zur Impfung zu nötigen. Oder Weihnachtsmärkte und Restaurants blieben geöffnet, weil dort ja alle Regeln brav befolgt und überwacht würden – unangesehen der entscheidenden Frage, ob denn die Regeln sinnvoll sind. Darüber, dass Regelbefolgung in Deutschland ein Wert an sich sei, kann sich Frau Paulsen übrigens sehr aufregen. Sie hält das für ein kulturelles Problem.
kk: Die Dame hat ihren Foucault gelesen…
PH: Oder eben nicht. (lacht leise) An dieser Stelle ist der Film viel zu ambitioniert und funktioniert nicht wirklich gut. Ich will nicht das böse Wort vom „plumpen Symbolismus“ im Munde führen, aber die Rolle des Schiedrichters ist schon ziemlich unglaubwürdig. Dabei ist es nicht ganz ohne Witz, wie sein erratisches "Regieren" einen latent vorhandenen Hang zum Wutbürgertum befeuert. Das schaukelt sich immer weiter hoch, bis die Situation schließlich gegen Ende des Films in einer ebenso sinnlosen wie zwangsläufigen blauen Karte - die "Höchststrafe" im Handball - kulminiert. Das ist so eine Art "Sahnehäubchen" auf dem ganzen Desaster.
kk: Gibt es denn auch was fürs Auge?
PH: Wenn man auf Handballer steht… (lacht kurz auf) Nein – das ist natürlich auch ein Sportfilm und es gibt einige wirklich lohnenswerte Szenen. Da wären sehr viele prachtvolle Würfe der Außen zu nennen; Nils Gebel, Sören Meyer und Moritz Schneider spielen das preisverdächtig. Mein persönlicher Favorit sind aber die Szenen, in denen Moritz Wittich und Benedict Rademaker im Rückraum zeigen, welche Möglichkeiten sich auftun, wenn man eine Situation mit Dynamik aufzuladen versteht und die Handlungsoptionen nutzt, die aus dieser Dynamik erwachsen. Das ist – ganz ohne politische Implikationen – einfach schön anzusehen.
kk: Das war der Kinokritiker Paul Heilig über den Hamburger Independence-Film Das Spiel beginnt erst nach zehn Minuten. Jetzt in irgendeinem Kino auf St. Pauli. Vielen Dank, Herr Heilig, und auf Wiedersehen.
PH: Auf Wiedersehen.

(arne)

Es spielten: Nils, Mo, Michael H., Michael „Michel“ S., Wuttich, Max G., Borsty, Michael G., Simon, Arne, Malte J., Bene, Sören
Bank: Felix, Wilde, Holger

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